logo
ensemble online 1

Simeon Pironkoff: spiel(t)räume (2006) für Klavier solo

In der Komposition spiel(t)räume(2006) für Klavier solo stehen sich zwei kontrastierende Teile gegenüber. Der Interpret unternimmt darin zwei "Ausflüge" in unterschiedliche Resonanzräume des Klaviers. Einer Art "weich-artikulierter" Rhetorik im ersten Teil (ertasten, erahnen, reagieren, resignieren), wird eine abstrahierte ("erstarrte") Rhetorik im zweiten Teil gegenübergestellt.
Wie so oft im heutigen Komponieren wird auch hier versucht, scheinbar Bekanntes mit Neuartigem zu konfrontieren, um dadurch neue (am besten unerwartete) Zusammenhänge zu generieren. Diverse Formbildungsmöglichkeiten werden eröffnet (manchmal nur angedeutet) und in Bewegung gesetzt (eventuell auch überlagert) - gleichsam als Versuch einer Formalisierung von Bewegungsabläufen. Die Aufgabe des Komponisten hier ist zwischen ihnen zu vermitteln oder an ihnen entlang zu gleiten.
Wie in einem Traum, wo wiederkehrende, traumatische Erlebnisse sich um eine möglicherweise "nicht erlebte Erinnerung" drehen, wird hier (mit Hilfe von "realen" Prozeduren wie Einblendung / Ausblendung / Überblendung / Filterung) ein virtueller Zielklang umkreist (man bewegt sich sozusagen die ganze Zeit in der Laufbahn einer "verborgenen Mitte").
In diesem Stück geht es mir einerseits um die Beziehungen von "Ähnlichem und Neuem", bzw. um das Vermitteln und Ineinandergreifen von Ähnlichem und Neuem: als "ähnlich" fungieren hierbei Rückgriffe auf bereits gehörte Klangstrukturen, als "neu" deren Modifizierungen und zugleich auch Eröffnungen strukturell neuer Bereiche. Andererseits spielt der Hang zur Umdeutung traditioneller Elemente (Ein-, bzw. Ausblendung von Tonleiterstrukturen, Spielfiguren, etc.) – besonders im ersten Teil – eine große Rolle.
Aus dem Spiel von Schwankungen zwischen Wiederholung und (ästhetisch – vererbte und unmittelbar – akustisch erlebte) Erinnerung entstehen Zwischenräume. Letztlich sind diese Zwischenräume vielleicht noch wichtiger als die Räume selbst.
In diesem Sinne ein Zitat (Quelle unbekannt): "In dem Augenblick, da man zwei Dinge erblickt und sich des Zwischenraums zwischen ihnen bewusst wird, muss man in diesen Zwischenraum eindringen. Wenn die zwei Dinge gleichzeitig vernichtet werden, dann glänzt in diesem Zwischenraum die Wirklichkeit."
(Simeon Pironkoff)

ensemble online 2

Seit Wolfgang Rihm1974 in Donaueschingen mit Morphonie (1972) zum erstenmal vor eine breite Öffentlichkeit trat, hat er ein kaum noch überschaubares OEuvre hervorgebracht.
In den fast dreißig Jahren zwischen 1974 und 2003 sind weit über zweihundert Kompositionen entstanden, darunter sieben Bühnenwerke, mehrere oratorische Kompositionen, die Zweite (1975) und Dritte (1976/77) Symphonie, die fünf Abgesangsszenen (1979/81), die sich zu einer Art Vokalsymphonie summieren, sechs zumeist orchestrale Werke im Umkreis des Tutuguri-Balletts (1980/83), der wichtige kammermusikalische und kammerorchestrale Chiffre-Zyklus (1980/88), elf Streichquartette, eine Anzahl von Liedern und anderen Vokalkompositionen, dazu eine Fülle von Arbeiten der unterschiedlichsten Art:Orchester- und Kammerorchester-Partituren, konzertante Werke mit einem oder mehreren Solisten, Klavierstücke. Trotz aller Behendigkeit dieses "Outputs" ist kein Nachlassen des schöpferischen Ingeniums, der kreativen Phantasie und der Sorgfalt in der Ausführung zu spüren. Gewiss gibt es auch bei ihm Haupt- und Nebenwege wie auf dem berühmten Bild von Paul Klee, doch es findet sich so gut wie keine Arbeit, die nicht irgendwo eine unvermutete Sprachwendung, einen ungewöhnlichen Klangfund in sich bärge. Wolfgang Rihm ist der Prototyp der Wandlungsfähigkeit, sein Schaffensgesetz besteht in der Ungleichartigkeit des Gleichzeitigen. Mit Claude Debussy und Pierre Boulez teilt er das Postulat, dass Musik es sich schuldig sei, in jedem Augenblick eine Überraschung bereitzuhalten. Daher sein Credo: "Nicht das systematisch Abgeleitete, sondern das unvermutet Eintretende verleiht einer Kunst Leben."
Wolfgang Rihms OEuvre ist ein einziges Plädoyer für künstlerische Freiheit, für ungehemmte Offenheit und schrankenlose Gewalt des Ausdruckswillens, ja Ausdruckszwangs, gleichermaßen auch für die stillen Schutzlosigkeiten der Innenschau. Seine Musik kennt den berserkerhaften Zugriff, den brüllenden Aufschrei wie das scheue Zusammenzucken. Beides hat mit einer anderen Rihmschen Devise zu tun: "Das Unmaß ist die kleinste Maßeinheit der Phantasie". Daraus erklärt sich auch ein bestimmender Zug dieses Schaffens: die ausgeprägte Neigung zur großen, weit ausladenden, ja zyklopischen Form wie in den Riesenbauten der Dritten Symphonie (1976/77), der dreiflügeligen Klangbeschreibung (1982/88), den oratorischen Arbeiten Dies (1984) und Andere Schatten (1985), den Bühnenwerken Die Hamletmaschine (1983/86), Oedipus (1986/87) und Die Eroberung von Mexico (1987/91). Eine lineare Entwicklung, bei der das jeweils Neue in bruchloser Konsequenz aus dem Voraufgegangenen entstehe, kennt Wolfgang Rihms schöpferische Laufbahn nicht: Seine Arbeitsweise ist häufig vegetativ, hält immer den Sprung in unvermutete Richtung bereit. Trotz aller Kontrastfähigkeit in Konzeption und Sprache jedoch existieren übergeordnete Linienzüge, deren Verlauf sich grob mit der Folge der Dekaden deckt. So ist pauschal gesehen eine Schaffensphase der Siebzigerjahre festzustellen, in der Rihms Idiom sich in Auseinandersetzung mit und in kontinuierlicher Loslösung von der deutsch-österreichischen Tradition von Beethoven, Bruckner, Mahler und Schönberg formt, eine Periode, in der unumschränkter Expressionsdruck herrscht, der Drang zur direkten Rede und zur unverstellten Emotion sich Bahn bricht. Die Achtzigerjahre bringen einen bedeutenden Wandel der Sprachhaltung. War Rihms Ausdrucksweise bis dahin zur Hauptsache ausladend-narrativ, so tritt nun eine immer stärkere Verknappung ein, ein Denken gleichsam in Klanginseln, eine Lakonik des Sprechens, die sich als spezifische Punktklang-Ästhetik äußert. Mitihrer Ausbildung und ihrem Fortschreiten verstärkt sich die visionäre Komponente in Rihms Musik, die Diktion wird härter, die bei ihm schon immer vorhandene taktile Ausmodellierung des Klangs profiliert sich zur ausgesprochenen "Klanghaptik", zur geradezu plastischen Ausprägung von Klang, Gestik und Form, die Ausdrucksbereiche weiten sich hinüber in die Bezirke von Isolation und existenzieller Unbehaustheit. Aufgrund gleich oder ähnlich gerichteter Klang- und Sprachvorstellungen begibt sich Rihms Musik in geistige Parallelität zu Luigi Nono, mit dem Rihm eng befreundet war.
Der hier angedeutete Prozess vollzieht sich paradigmatisch im Zyklus der Chiffren (1982/88), er findet seine eindringlichste Ausformung, seine schwärzeste Formulierung in der Klangbeschreibung (1982/88) und in der Kammerensemble- Komposition Kein Firmament (1988). Doch begegnen auch innerhalb dieser Phase Werke des erzählenden und romantisierenden Typus. Mit Beginn der Neunzigerjahre melden sich in Rihms Idiom die Zeichen eines neuen Flusses, ohne dass darum die Errungenschaften der "Punkt-Phase" gänzlich beiseite gesetzt würden, auch Reminiszenzen an die romantisierende Periode blitzen hin und wieder auf. Wolfgang Rihm, dem es in seinen jungen Jahren wichtig war, Werke zu komponieren, und der über Jahrzehnte hinweg am überlieferten geschlossenen Werkbegriff festhielt, hat sich seit 1992 zunehmend eine Formvorstellung zu eigen gemacht, die als spezifische Variante des "work in progress" definiert werden kann. Es handelt sich dabei gleichsam um die Umkreisung einer Grundidee, um die Beleuchtung einer Matrix aus unterschiedlichen Zugangswinkeln und Perspektiven, wobei das Urbild um neuen Text bereichert wird. Das Verfahren hat etwas vom Palimpsest, in ihm verschränken sich Variation und Paraphrase, auch Neuerfindung und Kontrafaktur, Rihm selbst spricht in Analogie zur Bildenden Kunst des Malers Arnulf Rainer von "Übermalung". Ein instruktives Beispiel bieten das Quasi-Konzertstück Sphere (1992/94) für Klavier, Bläser und Schlagzeug sowie die Orchesterpartituren Vers une Symphonie fleuve I-V (1992/2000), die die Bläser-Schlagzeug-Komposition – et nunc II (1993) als gemeinsamen "Mutterboden" haben. Am Ende der Neunzigerjahre hat Wolfgang Rihm dieses Formkonzept weiter ausgebaut und sublimiert.
Mit Ausnahme der liturgisch gebundenen Geistlichen Musik und der reinen Elektronik hat Wolfgang Rihm in seinem bisherigen Schaffen Belege für praktisch alle musikalischen Sparten vorgelegt, darunter nicht wenige Arbeiten von exemplarischem Rang. Knotenpunkte dieses OEuvres sind die großen orchestralen und vokal- orchestralen Formen der Dritten Symphonie (1976/77), der Abgesangsszenen (1979/81) und der Klangbeschreibung (1982/88) sowie die Bühnen-Trias Die Hamletmaschine (1983/86), Oedipus (1986/87) und Die Eroberung von Mexico, nicht zu vergessen die Kammeroper Jakob Lenz (1977/78), die mittlerweile zu den meistgespielten musiktheatralischen Werken des 20. Jahrhunderts zählt. In diesem Bereich geschieht auch ein bemerkenswerter Ablösungsprozess von der Tradition, der kontinuierlich von opernhaften Vorstellungen wegführt und mit Séraphin (1993/96) im geistigen Umkreis des französischen Surrealisten Antonin Artaud in das experimentelle Stadium eines musikalischen Bühnenwerkes ohne Text und festgelegte Handlung einmündet.
In einer gewissen Parallele dazu steht Rihms Position gegenüber dem Orchester, die sich im Verlauf der Achtzigerjahre von der überlieferten Formation immer mehr emanzipiert hat zugunsten einer freien Setzung instrumentaler Kombinationen in direkter Funktion der jeweiligen Klang- und Form-Idee. Innerhalb der "Werklandschaft" Wolfgang Rihms kommt es immer wieder zur Bildung von Schwerpunkten, Werkgruppen und Werkkreisen, deren Entstehung sich fallweise über mehrere Jahre hinziehen kann. Ausgangspunkte für solche Gruppen und Kreise sind bestimmte Klang- und Formvorstellungen wie etwa beim Zyklus der Chiffren (1982/88), bei den Abge- sangsszenen (1979/81) oder den verschiedenen Vers une Symphonie fleuve-Kompositionen (1992/2000). Nicht selten auch macht Rihm, der ein so offenes wie kennerisches Gespür für Schwesterkünste besitzt, solche Werkbündel an der Gestalt einer herausragenden Erscheinung der Literatur- und Geistesgeschichte fest. So sind Paul Celan, Arthur Rimbaud und Heiner Müller, mit besonderem Gewicht aber Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud für Rihm zu Angelpunkten schöpferischer Auseinandersetzung geworden, dem Freund Luigi Nono hat er mit fünf In-memoriam-"Versuchen" ein Denkmal gesetzt.
(Josef Häusler)

Wolfgang Rihm / Biografie

1952
1968-72
 
 
 
1970
1972
 
1972/73
1973-76
 
1976
1977/78
1978
 
 
seit 1978
1981
seit 1982
1983/86
1984/85
 
 
1984-89
geboren am 13. März in Karlsruhe
Kompositionsstudium bei Eugen Werner Velte an der Staatlichen
Hochschule für Musik in Karlsruhe noch während seiner Studienzeit am
Humanistischen Gymnasium
weitere Kompositionsstudien bei Wolfgang Fortner und Humphrey Searle
erstmals bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik
Abitur am Gymnasium und Staatsexamen in Komposition und
Musiktheorie an der Musikhochschule
Kompositionsstudium bei Karlheinz Stockhausen in Köln
Kompositionsstudium bei Klaus Huber und musikwissenschaftliche
Studien bei Hans Heinrich Eggebrecht in Freiburg im Breisgau
Faust und Yorick – Kammeroper Nr. 1 (Jean Tardieu/Frithjof Haas)
Jakob Lenz – Kammeroper Nr. 2 (Georg Büchner/Michael Fröhling)
Berliner Kunstpreis-Stipendium
Kranichsteiner Musikpreis Darmstadt
Reinhold Schneider-Preis der Stadt Freiburg
Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen
Beethoven-Preis der Stadt Bonn seit 1982
Präsidiumsmitglied des Deutschen Komponisten-Verbandes
Die Hamletmaschine (Heiner Müller/Rihm)
Fellow des Wissenschaftskollegs Berlin
Mitherausgeber der Musikzeitschrift "Melos" (bis 1989)
Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrates
musikalischer Berater der Deutschen Oper Berlin

ensemble online 3

Frescobaldi da lontano
, eine Folge von 20 Variationen über Girolamo Frescobaldis Capriccio cromatico con ligature al contrario (Venedig 1626), bearbeitet den Ausgangstext mittels verschiedener Kompositionstechniken (Anagramm, Überlagerung, Filterung, Transposition, Zeitdehnung bzw. -stauchung). Tradition nicht als selbstverständlich gegebenes, sondern als bewußt erinnertes Erbe wird im Erinnern transformiert, der Abstand, der uns von ihr trennt, immer neu vermessen.

Alexander Stankovski

Alexander Stankovski, geboren 1968, studierte Komposition an der Wiener Musikhochschule bei Francis Burt und in Frankfurt bei Hans Zender. Er erhielt Kompositionsaufträge von renommierten Institutionen und Ensembles (z.B. Salzburger Landestheater, Alban-Berg-Stiftung, Klangforum Wien, Ensemble die reihe, ORF, Wiener Konzerthausgesellschaft).
Aufführungen bei Festivals wie wien modern, Hörgänge, Moskauer Herbst, Frankfurt Feste, Bludenzer Tagen zeitgemäßer Musik, Musikbiennale Berlin, Schönberg Festival Duisburg brachten ihm internationale Beachtung. Stankovski unterrichtete von 1996 bis 2004 als Assistent von Michael Jarrell eine Kompositionsklasse an der Musikuniversität Wien. Seit 1998 ist er als Gastprofessor u.a. für Harmonielehre, Kontrapunkt und Formanalyse an der Musikuniversität Graz tätig.

back